Die Geburtenrate in Deutschland ist seit Jahrzehnten rückläufig und hat derzeit ihren bisherigen Tiefstpunkt von durchschnittlich 1,36 Kindern pro Frau erreicht. Diese Entwicklung hat eine Vielzahl von Ursachen und produziert gemeinsam mit dem an sich erfreulichen Trend des Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung eine Vielzahl von Problemen. In den letzten Jahrzehnten hat die Politik diese Entwicklung zunächst verdrängt und in neuerer Zeit nur unadäquat darauf reagiert. Weder hat man versucht die Ursachen dieser Entwicklung klar zu definieren und anschließend ihnen entgegen zu wirken noch hat man angemessene Vorkehrungen getroffen, die Gesellschaft auf den unabwendbaren Teil der Folgen jener Entwicklung vorzubereiten und etwa die komplexen Systeme des Sozialstaates so umzugestalten, dass dieser auch auf die sich veränderten Rahmenbedingungen reagieren kann.
Seit Jahren hat sich die Sozialdemokratie als stärkste Akteurin im Bereich der Familienpolitik etabliert. Es wurden viele gute Vorschläge unterbreitet und auch einige zum Teil gegen großen Widerstand der konservativen Kräfte umgesetzt. Letztlich aber muss die Zwischenbilanz kritisch ausfallen und die ergriffenen Maßnahmen als unzureichend beurteilt werden.
Gleichzeitig aber hat unsere Gesellschaft auch zugelassen, dass nunmehr mehr als 1,5 Millionen Kinder, also 10% aller Kinder unseres Landes, in relativer Armut leben, d.h. in Familien, denen weniger als 50% des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht. Kinder zu haben stellt in Deutschland mittlerweile das größte Armutsrisiko dar und hat damit das noch in den 50er Jahren dominierende Risiko der Armut durch Alter schon lange überholt. Besonders schwer trifft es alleinerziehende Eltern und ihre Kinder, Großfamilien und Familien mit Migrationshintergrund. 37 % aller Kinder, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, 56 % der Kinder aus sehr großen Familien und 50 % der Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund leben in relativer Armut.
Diese soziale Schieflage verschärft sich noch um ein Vielfaches, wenn man bedenkt dass in Deutschland der Bildungserfolg erheblicher als in fast allen anderen Industrieländern vom sozialen Stand der Familie abhängt. Viele der Kinder aus armen Elternhäusern werden in Zukunft selbst Familien gründen, die in Armut leben müssen, wenn sich die Politik nicht grundlegend wandelt.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen den Menschen in diesem Land weder vorschreiben ob und wie viele Kinder sie bekommen und wie sie die Erziehung und Betreuung organisieren. Unser Ziel ist es vielmehr den Menschen wirkliche Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Wir wollen für eine Gesellschaft eintreten, in der Menschen mit einem Kinderwunsch sich diesen auch erfüllen können. Weder berufliche noch finanzielle Zwänge sollten in einer humanen und freiheitlichen Gesellschaft so groß sein, dass es Menschen verwehrt bleibt, ihrem Wunsch nach Kindern nachzukommen.
Wir Harzer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen deshalb im Folgenden weitreichende Vorschläge unterbreiten, die die aktuelle Diskussion über eine kinder- und familienfreundliche Politik bereichern sollen.
I. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
1. Eltern müssen einen gesetzlichen Anspruch auf Betreuung ihrer Kinder jeden Alters bekommen. Dieser muss durch eine bedarfsdeckende Zahl an Betreuungsplätzen auch real erfüllt werden können. Wir empfinden dies als eine gesamtstaatliche Aufgabe, was eine teilweise Finanzierung auch der laufenden Kosten der Kinderbetreuungseinrichtungen durch den Bund notwendig machen würde. Eine Drittelung der Kosten zwischen Bund, Ländern und Kommunen wäre denkbar. Ob Eltern von den Kinderbetreuungseinrichtungen Gebrauch machen oder die Betreuung privat organisieren bleibt ihnen freigestellt und sollte weder in die eine noch in die andere Richtung finanziell angeregt werden.
2. Die Kostenfreiheit der Kinderbetreuung muss Ziel sozialdemokratischer Politik sein. Kurzfristig muss nach Modellen gesucht werden, die es möglichst ausschließen, dass ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme durch zu hohe Kinderbetreuungskosten negiert wird.
3. Wir fordern den Ausbau des Ganztagsschulprogramms, sodass schrittweise alle Schulen unseres Landes in Ganztagsschulen umgewandelt werden können.
4. Das Recht eine bezahlte Auszeit vom Berufsleben zu nehmen um sich zeitweise verstärkt der Kindererziehung zu widmen, sowie die Anreize zu einer Wahrnehmung jenes Anspruches durch beide Elternteile begrüßen wir.
II. Gleiche Bildungschancen für alle
5. Um zu gewährleisten, dass alle Kinder zum Zeitpunkt ihrer Einschulung die notwendigen Fähigkeiten besitzen, die zum weiteren erfolgreichen Lernen in der Schule notwendig sind, fordern wir ein kostenloses verbindliches Vorschuljahr. Dadurch soll vor allem sichergestellt werden, dass Kinder mit aber auch ohne Migrationshintergrund die deutsche Sprache ausreichend gut verstehen und sprechen können, um dem Unterricht folgen und aktiv an ihm teilnehmen zu können.
6. Des Weiteren muss auch generell an der Fortentwicklung der Qualität vorschulischer Bildung in Kinderbetreuungseinrichtungen permanent gearbeitet werden. Kinder sind auch und vor allem in sehr jungen Jahren sehr wiss- und lernbegierig. Diese natürliche Neigung darf nicht ignoriert, sondern muss gefördert werden. Es ist z.B. durchaus denkbar, dass auch schon in Kindergärten spielerisch eine erste Fremdsprache gelernt werden kann, da die dafür notwendige Fähigkeit in jungen Jahren besonders groß ist und mit zunehmendem Alter eher abnimmt. Die qualitative Entwicklung des Bildungsangebots von Kinderbetreuungseinrichtungen wird Investitionen in West- und Ostdeutschland erfordern. Wir sprechen uns daher dafür aus, dass die Bundesmittel für Investitionen in die Kinderbetreuung gerecht zwischen allen Bundesländern verteilt und nicht, wie es einige Vorschläge vorsehen, ausschließlich an westdeutsche Bundesländer ausgezahlt werden.
7. Das dreigliedrige Schulsystem mit seiner ausgrenzenden Wirkungsweise ist durch die „Allgemein bildende Oberschule“ (AOS) zu ersetzen.
8. Schulsozialarbeit sollte an jeder Schule stattfinden, um bei der Lösung komplexer psychosozialer Probleme von Schülerinnen und Schülern zu helfen.
9. Wir fordern die Einführung einer Ausbildungsplatzumlage, die nichtausbildende Betriebe ab einer bestimmten Betriebsgröße zur Mitfinanzierung der Ausbildung in ausbildenden Betrieben verpflichtet und dadurch eine Steuerungswirkung für mehr Ausbildungsplätze erzielt.
III. Finanzierbarkeit der Familiengründung und finanzielle Gleichstellung von Eltern und Kinderlosen
10. Die Ausbeutung junger Menschen durch Dauerpraktikastellen ohne vorrangiges Qualifizierungsinteresse ist durch die Tarifpartner und den Staat zu bekämpfen. Arbeit ohne oder mit einer weit unter dem Arbeitswert liegenden Bezahlung ist nicht nur ungerecht, sondern führt auch zur Verarmung einer ganzen Altersklasse. Vorrangig betrifft dies junge Menschen, die sich in einem Alter befinden, indem man vermehrt über
die Gründung einer Familie nachdenkt.
11. Wir begrüßen die Bemühungen flächendeckende und alle Branchen erfassende Mindestlöhne einzuführen, die es ermöglichen, Kinderlosigkeit aufgrund eines zu niedrigen Einkommens zu bekämpfen und der Kinderarmut entgegenzuwirken.
12. Um auch jungen Akademikerinnen und Akademikern die Gründung einer Familie zu ermöglichen, lehnen wir die Einführung von Studiengebühren ab, die nur zu einer hohen Verschuldung junger Menschen führen würde. Langzeitstudiengebühren bleiben davon unberührt, da wir das Setzen eines zusätzlichen Anreizes zu einem möglichst zügigen Abschluss des Studiums begrüßen.
13. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Generationenvertrag nicht nur eine, sondern zwei Leistungen erfordert, um einen Anspruch auf Versorgung im Alter zu erlangen. Neben der Einzahlung von Beiträgen zur Finanzierung der gegenwärtigen Rentnergeneration entspricht auch die Leistung der Erziehung und Versorgung von Kindern einer notwendigen Bedingung zur langfristigen Finanzierbarkeit der Renten. Eltern verwenden darauf viel Zeit und Geld und müssen eigene Interessen zurückstellen, nicht zuletzt betrifft dies auch Bildungs- und Karriereziele. Es ist daher als gerecht anzusehen, Kindererziehung bei der Zahlung von Renten zu berücksichtigen. Eltern haben in der Regel schließlich auch wesentlich weniger finanziellen Spielraum, um privat für das Alter vorzusorgen, als kinderlose Erwerbstätige. Dabei darf es nach unserer Ansicht keine Benachteiligung von erwerbstätigen Eltern, etwa in Form einer Vergünstigung, die nur für nichterwerbstätige Elternteile gilt, geben. Dies soll kinderlose Menschen nicht bestrafen, sondern nur die auch real anfallenden finanziellen Mehrbelastungen von Eltern ausgleichen.
IV. Bekämpfung der Kinderarmut und der Kindesvernachlässigung
14. Wir fordern, dass das Kindergeld in der zur Existenzsicherung nötigen Höhe gezahlt wird, wie sie vom Gesetzgeber durch das Sozialgeld für in Bedarfsgemeinschaften lebende Kinder definiert wird. Bezogen auf die Höchstbezugsdauer des Kindergeldes ergibt sich ein Durchschnittswert des in zwei Altersklassen unterschiedlich hoch ausfallenden Sozialgeldes von rund 235 €. Um der Methodik des BVerfG in seinem Urteil vom 10.11.1998 zur Feststellung der Verfassungskonformität der Höhe des Kinderfreibetrages zu folgen, müsste zu diesem Betrag ebenfalls noch eine anteilige Miet- und Heizkostenpauschale (also ein pauschalierter Betrag des Anteils an den Miet- und Heizkosten, der durch den durch die Kinder erhöhten Wohnflächenbedarf entsteht) addiert werden. Wenn man von der Richtigkeit der Festlegung des Existenzminimums ausgeht, würde eine solche Regelung folgende Leistungen des Staates überflüssig machen: Kinderfreibeträge (dies stellt nach dem oben genannten BVerfG-Urteil eine verfassungskonforme Kompensation dar), Unterhaltsvorschussleistungen, die Steuerklasse II mit der Alleinerziehendenentlastung und das Sozialgeld für in Bedarfsgemeinschaften lebende Kinder selbst natürlich auch, weil gegen dieses der Kindergeldanspruch gegengerechnet wird. Dennoch werden durch diese Sozialleistung nicht unerhebliche Mehrkosten für den Bundeshaushalt entstehen. Wir schlagen vor, dass zu deren Finanzierung das so genannte Ehegattensplitting abgeschafft wird, dass an sich nur eine ungerechte Steuersubvention nach dem Gießkannenprinzip darstellt.
15. Wir begrüßen die Bemühungen der Bundesregierung, geduldeten Ausländern einen dauerhaften Aufenthaltsstatus mit Arbeitserlaubnis zu verleihen und vage Verfahren zur Klärung des Aufenthaltsstatus zeitlich zu raffen, da es nicht hinnehmbar ist, dass Kinder unter Bedingungen aufwachsen, wie sie sich durch einen unklaren Aufenthaltsstatus der Familie ergeben.
16. Kinderarmut ist häufig nicht ausschließlich durch Einkommens- sondern auch durch soziale, kulturelle und Bildungsarmut geprägt. Ein umfassender Sozialstaat muss mehr leisten, als nur zu alimentieren. Die Erfahrungen mit der geringen Erreichbarkeit von Familien, die eigentlich der Hilfe des fürsorgenden Sozialstaates bedürften, machen eine Suche nach neuen Methoden des Erreichens hilfsbedürftiger Familien und Kinder notwendig. Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen stellen einen entscheidenden potenziellen Verknüpfungspunkt zwischen Kindern und Sozialarbeitern bzw. Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe dar. Häufig sind die Chancen Fehlentwicklungen im familiären Umfeld zu erkennen in Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen am größten. Ziel der staatlichen Jugendhilfe muss es sein, allen bedürftigen Kindern und Familien zumindest ein Betreuungs- und Hilfsangebot zu unterbreiten. Wir fordern also eine möglichst enge Zusammenarbeit der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sowie der Familienberatung mit den Kinderbetreuungseinrichtungen und den Schulen.
17. Um sicher zu stellen, dass die Grundversorgung der Kinder gewährleistet ist und die Sozialleistungen des Staates tatsächlich auch den Kindern zugute kommen, muss der Staat konsequenter Gebrauch von bereits vorhanden Kontroll- und Steuerungsinstrumenten machen.
18. Wir fordern die Einführung verbindlicher frühkindlicher Untersuchungen, um neben der positiven medizinischen Vorsorge, den Hinweisen auf notwendige Impfungen und der Früherkennung von Entwicklungsstörungen auch das rechtzeitige Erkennen von Kindesvernachlässigungen gewährleisten zu können.